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Tom Harrell Quartetim Pappelgarten Reutlingen am 30. April 2018Nach Auswahl eines Bildes bitte rechts oder links ins Foto klicken oder Taste → und ← zum Blättern.Danny Grissett, piano and Fender Rhodes Ugonna Okegwo, bass Adam Cruz, drums and percussion Eine Sternstunde des Jazz REUTLINGEN. Jazz auf Messers Schneide auf traumhaftem Niveau: Tom Harrell gehört seit vielen Jahren zur absoluten Creme de la Creme der amerikanischen Jazzszene. Beim Auftritt im rappelvollen Pappelgarten bewies der an Schizophrenie leidende Trompeter zusammen mit seinem Quartet, weshalb die Vorschusslorbeeren, die dem Auftritt vorauseilten, keineswegs übertrieben waren. Nicht viele Jazzmusiker können jenen berühmten Schuss Originalität, jene untrügliche Souveränität über alle Stilrichtungen auf sich vereinen, die das gewisse Etwas ausmachen. Was zählt, ist jahrelange Erfahrung, gepaart mit Leidenschaft und einem überdimensionalen Schuss Talent. Viele schreiben das Hardbop-Idiom fort, weil sie es gelernt haben. Tom Harrell spielt Hardbop, weil er ihn lebt und immer gelebt hat. Der inzwischen 71-jährige Amerikaner gehört trotz seiner schweren Krankheit zu den originärsten und komplettesten Trompetenstimmen des Jazz. Dank starker Medikamente kann er seine Virtuosität und spektakuläre Technik auf den Punkt abrufen und scheint in der Musik ein relativ stabiles Paradies gefunden zu haben. Mit tief gebeugten Kopf betritt der in Palo Alto aufgewachsene Klangästhet in kleinen Schritten die Bühne und verharrt dort regungslos und scheinbar teilnahmslos bis zu seinem Einsatz. Doch sobald er die Trompete oder das Flügelhorn angesetzt hat, lebt er geradezu auf, lässt seine Krankheit für einen kurzen Moment hinter sich und bläst sich frei. Brillant in der Dynamikkontrolle, energisch und trocken in der Gestaltung seiner Soli, schnörkellos, intensiv und trotz allem keineswegs angestaubt, entwickelt der so ganz in seiner Welt lebende Trompeter eine zeitlose Musikform, die sowohl waghalsige Virtuosität als auch sehnsuchtsvollen Lyrismus ausstrahlt. Irgendwie ist er das noch, der unverfälschte Hardbop der späten sechziger Jahre. Tom Harrell lebt ihn in seinen Soli, doch sofort nachdem er das Instrument von den Lippen genommen hat, scheint er wieder zu erstarren und in sich zusammenzusacken. Mit tief gesenktem Kopf schlurft er zur Bühnenseite und verharrt dort regungslos bis zu seinem nächsten Einsatz. Großen Anteil an dieser Sternstunde des Jazz haben neben dem Bandleader auch der Pianist Danny Grissett, der sich mit Harrell häufig einen musikalischen Schlagabtausch liefert. Während Grissett die intensiven Hardbop-Themen vehement antreibt, bringt Bassist Ugonna Okegwo die swingenden Farbtupfer ins Spiel. Er knüpft souverän an die Jazz-Vorbilder an, mit denen Tom Harrell in seinem langen, musikalischen Leben zu tun hatte. Der überaus modern trommelnde Adam Cruz macht den kernigen Gruppensound komplett. Dieser resultiert auch daraus, dass die Musiker ihre technischen Fähigkeiten mit einem enormen Gespür für das Timing ihrer Einsätze vermengen. Und mitten drin in diesem brodelnden Gebräu steht Tom Harrell, der seit seiner Kindheit Trompete spielt und seit über 50 Jahren mit seiner Krankheit leben muß. Trotz seiner körperlichen Zerbrechlichkeit und scheinbar geistigen Abwesenheit wirkt er zuweilen wie ein Fels in der Brandung. Seine weichen und geschmeidigen Linien erlebt man wie eine angenehme Abkühlung auf den ansonsten eher hitzigen Jazz. Dann entsteht so etwas wie eine mystische Stimmung im Raum und Tom Harrell wirkt fast wie ein Schamane, der seine Krankheit durch den Geist der Musik transzendiert. Jürgen Spieß
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